Aktuell werden über 40 Millionen Menschen festgehalten, ausgebeutet und missbraucht. Die Entschuldigung, hierbei sei die Frage nach Recht und Unrecht erst noch international zu klären, kann man nicht mehr vorbringen. Zur Zeit des Briefes an Philemon hingegen war geradezu selbstverständlich, dass das Leben in Freiheit den einen vorbehalten ist und die anderen keinen Anspruch darauf haben. Der Same zur Überwindung dieser willkürlichen Aufteilung war freilich bereits gesät. Bis allerdings in ganzen Gesellschaften reife Früchte geerntet wurden, verstrichen unnötig lange Zeiträume mit unzähligen lebenslänglich Geknechteten und Entrechteten. Dass Paulus in dieser Geschichte ein Beschleuniger und nicht ein Bremser war, hat aber bereits damals für mindestens einen Sklaven wohl einen bedeutenden Unterschied gemacht. Schauen wir da mal genauer hin.
Minus 1: Ein Nichtsnutz weniger!
In Phlm 1-14 (d.h. in der ersten Briefhälfte, da es insgesamt nur 25 Verse und keine Kapitel gibt) ist alles für uns Relevante bereits gesagt: Paulus bezeichnet einen Onesimus, den er zum Glauben geführt hat, erstaunlicherweise als seinen „Sohn“ (Vers 10). Dessen Name bedeutet „der Nützliche“ und damit wird gespielt, wenn das „von Nutzen sein“ (V. 11) thematisiert wird. Es ist das typische Kriterium, das man an den eigenen Sklaven anlegte. Einen solchen hingegen „mein eigenes Herz“ (V. 12) zu nennen, fällt aus der Reihe und ist erklärungsbedürftig. Zudem ist Philemon der Herr, dem Onesimus offensichtlich gehört. Wem dieser in Zukunft vielleicht „Dienste leistet“ (V. 13), wird von Paulus raffiniert angedeutet. Eine konkretere Forderung (bis hin zur Freilassung etwa) wird aber nicht formuliert (auch nicht in der zweiten Briefhälfte). Philemon soll hier ja auch ausdrücklich keinen apostolischen Befehl befolgen, damit der Liebe Raum gegeben wird (V. 8-9). Zwang und „die gute Tat“ passen nicht zusammen (V. 14)!
Die freiwillige Erkenntnis des Guten ist für Paulus ein Kernwert (V. 6) – so wie das Gebet (V. 4). Beides sind integrale Bestandteile eines Lebens im Glauben und in der Liebe (V. 5). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, wie bereits die einleitenden Verse zweierlei Ebenen beinhalten (V. 1-3): Einerseits ist man „Mitarbeiter“ bzw. „Mitstreiter“ – für die MISSION von Jesus Christus, dem Herrn. Andererseits ist man „Bruder“ bzw. „Schwester“ – in der die FAMILIE Gottes, des Vaters. Auch Philemon wird darum nicht nur als Mitarbeiter geliebt, sondern als Bruder (V. 7). Und das erklärt ebenfalls die erstaunliche Sicht des Paulus auf Onesimus – nicht nur Dienst und Nutzen, sondern Sohn und Herz. Es wird hier also besonders greifbar, dass die Jesus-Dynamik eine neue Exodus-Dynamik ist – und zwar nicht nur in spiritueller, sondern durchaus auch wieder in sozialer Hinsicht! An einer beispielhaften Geschichte für das Gute, das auch Philemon erkennen und tun kann, mangelt es also nicht.
War Paulus für die Versklavten kämpferisch genug?
Klar – wir verurteilen es heute aufs Schärfste, wenn eine Person wie Ware be-/gehandelt wird. Darum fehlt für unser Empfinden hier eine schonungslose Ansage wie z.B. „Alle Menschen sollen als FREIE leben, niemandem gehören und für sich selbst arbeiten!“ Dennoch ist Paulus nicht weniger revolutionär – im Gegenteil! Zu unserer Überraschung dreht er es einfach um – im Sinne von „Alle Menschen sollen als DIENENDE leben, dem göttlichen Vater gehören und füreinander arbeiten!“ Zu zahm? Nein! Veranschaulichendes Beispiel: Gerade weil der Apostel dem höchsten Gott dient und so im Namen von Jesus Christus einen Wahrsagegeist aus einer Sklavin austreibt, wird er für deren Besitzer zu einem geschäftsschädigenden Unruhestifter (s. Apg 16,16-24).
Wer für das Gute kämpft, braucht einen langen Atem und bohrt dicke Bretter. Schnelles Erzwingen wäre kontraproduktiv, weil das ja gerade im Widerspruch zu Gottes freiheitlicher Liebe stünde. Man würde vielleicht kurzfristig die Macht des Aufhalters A oder der Blockiererin B brechen können, aber die bösen Geister im Hintergrund würden spätestens durch Y oder Z wieder zurückschlagen. Damit also aller Ungerechtigkeit gegen Geschöpfe (und überhaupt gegen die Schöpfung) Gottes nachhaltig die Grundlage entzogen wird, braucht es auch DICH als Teil der oben beschriebenen Familie und Mission! Hast du Geschwister im Glauben an deiner Seite, mit denen du immer wieder neu um Erkenntnis beten kannst? In welchem Bereich arbeitest und streitest du mit, damit sich die Jesus-Dynamik noch weiter entfaltet? Mit wem und wo auch immer – versäume es nicht, das Entsprechende zu tun!
Web-Favoriten zum Philemonbrief
Wir haben gesehen, wie viel selbst im kürzesten Schreiben von Paulus steckt. Ja, es gäbe sogar noch mehr. Ich verbleibe nun aber mit dem Hinweis, wie man noch einmal einen Gesamtüberblick kriegen kann – nämlich durch den entsprechenden Bibelkunde-Artikel von bibelwissenschaft.de oder durch folgenden Youtube-Clip von Das Bibel Projekt (6 min):
Dies war ein Blogartikel im Rahmen meines eigenen Projektes 8etappen.net und ich hoffe, er hat Lust darauf gemacht, auch selbständig auf Bibel-Entdeckungsreise zu gehen! Fange doch auch mit Etappe 1 an und folge mir in deinem eigenen Tempo! Ich fahre inzwischen mit Etappe 8 fort und werde so demnächst einen kurzen Artikel zum Titusbrief schreiben sowie hier veröffentlichen. Deine Bemerkungen zum Philemonbrief würden mich übrigens auch sehr interessieren – Kommentieren ist also höchst erwünscht!!