Jesus: 4 Schock-Momente im Markusevangelium

Wenn es nur so wenige wären! Was der Erzähler Markus uns in seinem Werk präsentiert, ist an Adrenalin-Dichte kaum noch zu überbieten!! Immer heftigere Konfrontationen folgen aufeinander – nach dem Muster: Es wird A erwartet, aber Jesus sagt B oder tut C. Hier also nur vier Beispiele dafür, die (sowohl damals die Textüberlieferer als auch) mich diesmal beim Lesen besonders überrascht haben.

Schock Nr. 1: Jesus war ein Problemkind!

Ok, Jesus ist schon ein Erwachsener, wenn Markus in die Geschichte einsteigt. Aber welche Mutter interessiert das schon? Kapitel 3, Verse 20 und 21 (fortgesetzt in den Versen 31-35): Der Bub kommt nicht zum Essen. Klarer Fall: “Er muss verrückt geworden sein.” Ja, nicht nur Maria sieht das so; die Geschwister, die Jesus hat, scheinen ebenfalls ihrer Meinung zu sein.

Spätestens im 5. Jh. konnten manche Textüberlieferer das nicht mehr so stehen lassen. Und so sind uns Abschriften erhalten, in denen plötzlich nicht mehr die eigene Familie Jesus für verrückt erklärt, sondern die Gruppe der Gesetzeslehrer (die ab Vers 22 zwischenzeitlich die Bühne betreten). Aus wörtlich “als die, welche um ihn waren, hörten” wurde einfach “als die Schriftgelehrten und andere über ihn hörten” – was natürlich viel weniger schockierend wäre, aber von allen anderen Handschriften als unzulässige Zähmung des griechischen Originaltextes entlarvt wird.

Das eigentliche Problem ist hier allerdings weder das Nicht-Essen noch das Verrückt-Sein: Jesus entzieht sich wohl aus Sicht seiner jüngeren Geschwister und seiner Mutter (deren Mann Josef zu diesem Zeitpunkt offenbar bereits verstorben ist) der Verantwortung für die Familie! Was kann ein Wanderprediger und -heiler (s. vorangehende Abschnitte und Kapitel) schon zur Versorgung beitragen und nach Hause bringen?!

Schock Nr. 2: Jesus war einfach unfähig!

Ok, “einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie” – immerhin! Aber die Verse 1-6 von Kapitel 6 sind insgesamt schon sehr demütigend für Jesus – insbesondere Vers 3: “Ist er nicht der Zimmermann, der Sohn von Maria…?” Mit anderen Worten: Ist Jesus nicht ein gewöhnlicher Arbeiter wie wir, der sich gefälligst um seine verwitwete Mama kümmern soll?

Auch hier gibt es eine Minderheit in der Textüberlieferung, die es scheinbar harmonischer fand, aus “der Zimmermann, der Sohn der Maria” einfach “der Sohn des Zimmermanns, der Maria” zu machen. Die originaltreue Mehrheit hatte jedoch nichts gegen einen Arbeiter-Jesus (oder traute sich zumindest nicht, die Heilige Schrift zu korrigieren).

Während Jesus in seiner Heimatstadt also auf seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Handwerk und einer bestimmten Verwandtschaft reduziert wurde, wurde er davon an anderen Orten und zu anderen Zeiten abgehoben und nur noch vergeistlicht als vornehmer Weisheitslehrer und Wundertäter gesehen. Wie auch immer – Jesus war nicht einfach unfähig, sondern einfach..äh..einfach! 🙂

Schock Nr. 3: Jesus war emotional instabil!

Ok, Jesus eine Persönlichkeitsstörung zu unterstellen, wäre sicher übertrieben. Aber von einem Orientalen eine Impulskontrolle wie bei Angela Merkel zu erwarten, wäre ebenso abwegig. Nichtsdestotrotz irritiert Jesus in den Versen 14-29 von Kapitel 9 wohl nicht nur mich, wenn er z.B. sagt (Vers 19): “Wie lang soll ich noch bei euch aushalten und euch ertragen?” In diesem gereizten Tonfall höre ich auch das aufgegriffene “Wenn du kannst?” in Vers 23.

Hier hat sogar die Mehrheit der Textüberlieferer eine Korrektur vorgenommen, der auch die Schlachter-Übersetzung folgt: “Wenn du glauben kannst – alles ist möglich, dem der glaubt.” (Die Stelle wird hier also durch das Hinzufügen des Verbes “glauben” entschärft.) Die Gute Nachricht Bibel orientiert sich an der Minderheit, zu der aber die beiden bedeutendsten Abschriften (Codex Sinaiticus und Codex Vaticanus) gehören.

Aus meiner Sicht steht hier die ganze Pointe auf dem Spiel: Regt sich Jesus hier nicht gerade darüber auf, dass hier der etwas könnende Mensch überschätzt wird? Unterschätzt wird demgegenüber der glaubende/vertrauende Mensch: Dem – nicht jenem – ist nämlich alles möglich! Der darauffolgende Vers 24 zeigt doch gerade, dass “glauben können” ein Ding der Unmöglichkeit ist: “Hilf mir vertrauen!”

Schock Nr. 4: Jesus ist ein Zombie!

Ok, für den Zurückgekehrten aus dem Totenreich im Markusevangelium gibt es einen eigenen Fachbegriff: Jesus ist der Auferstandene – bzw. Smauferstandene, falls er inzwischen ein Smartphone hat. In den Versen 1-8 von Kapitel 16 lesen wir allerdings, dass diese theologische Unterscheidung die Frauen am leeren Grab keineswegs beruhigen konnte. Und mit diesem Schrecken der Superlative endet die ursprüngliche Erzählung des Markus.

Die beiden bedeutendsten Abschriften des Neuen Testamentes (s. oben) hatten dem jedenfalls nichts hinzuzufügen. Ebenso wenig finde ich, dass hier etwas fehlt bzw. etwas verloren gegangen sein muss. Mit dem Nachtrag (Verse 9-20), der sich dann im 5. Jh. in der Textüberlieferung durchsetzte, kann ich aber auch gut leben. Die Rekonstruktion des abrupteren Endes wurde damit ja nicht verunmöglicht.

Dass eine endgültige Zensur dieses Schock-Moments (und auch der anderen drei) nicht erfolgte, zeigt übrigens, wie zurückhaltend und respektvoll gegenüber den Originaltexten die Überlieferer doch insgesamt waren! Eine systematisch manipulierte Bibel sähe jedenfalls ganz anders aus – nämlich schön harmlos geglättet und gerade dadurch höchst unglaubwürdig!!

Und welche Relevanz hat das für mich persönlich?

In allen vier Erzählungen geht es Jesus nicht einfach ums Schockieren, sondern um die Konfrontation mit unseren Ängsten: Da sind z.B. die Angst vor dem Verlust eines Familienmitglieds und der Versorgungssicherheit, die Angst vor einem nicht gelingenden Leben und dem Versagen durch Unfähigkeit, die Angst vor dem unkontrollierbaren Übernatürlichen und dem Tod. Welche davon kommen dir bekannt vor?

Mir gefällt, wie Jesus den Blick weg von uns und unserem (vorhandenen oder fehlenden) Können auf Gott lenkt. Er ist treu und wir dürfen – ihm vertrauend und glaubend – etwas riskieren! Und da hier nicht mehr Leistungsstärke Voraussetzung ist, ist niemand mehr ausgeschlossen – ja, plötzlich nehmen auch die Schwächeren (z.B. Kinder, Invalide) am Geschehen vollwertig teil! Wer also diesen Perspektivenwechsel vornimmt, wird es nicht bereuen; wer sich jedoch von Familie oder Arbeit und deren überbewerteten Sicherheiten zurückhalten lässt, hingegen schon (s. Mk 10,28-31). Was könnte dein erster oder nächster Schritt in Richtung Angstfreiheit sein?

Youtube-Favoriten zum Markusevangelium

Wer sich für zwei weitere Schock-Momente in den Kapiteln 10 und 14 interessiert, möchte sich vielleicht folgende (je ca. 70-minütige, aber sehr kurzweilige) Videovorträge des Projektes Worthaus anschauen: Jesus aus Nazareth und sein Verhältnis zu Kindern sowie Vom Sinn des Abendmahls. Von Das Bibel Projekt kann ich diesen (knapp 10-minütigen) Clip zum Überblick wärmstens empfehlen:

Dies war ein Blogartikel im Rahmen meines eigenen Projektes 8etappen.net und ich hoffe, er hat Lust darauf gemacht, auch selbständig auf Bibel-Entdeckungsreise zu gehen! Steige doch gleich noch ein und erkunde Etappe 1 mit mir! Ich fahre nun fort mit den beiden Samuelbüchern und werde dazu in ein paar Wochen wieder einen kurzen Artikel schreiben und hier veröffentlichen. Deine Bemerkungen zum Markusevangelium würden mich übrigens auch sehr interessieren – Kommentieren ist also höchst erwünscht!!

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