Überzeugung: 2x Urteilen im Römerbrief

“Nie darf ich nichts!” So beschwert sich Karlchen bei seinen Eltern, weil er gerade mal eine Wartezeit ohne deren Tablet aushalten soll. “Immer darf Karla alles!” So beschwert sich Karl bei seinen Eltern, weil er inzwischen selbst Vater ist und seiner Tochter nun aber das Warten mit dem Tablet von Oma und Opa erleichtert wird. Beide Aussagen treffen in ihrer Überspitzung wohl kaum wörtlich zu, wobei sich zwischen ihnen durchaus die Tendenz zur Altersmilde entwickelt haben mag. Gleichzeitig ist wahrscheinlich, dass Karlas Geburt schon auch zu schlagartigen Veränderungen geführt hat. Auf solche Weise kann man ausgiebig hin und her spekulieren – ganz ähnlich also auch über die Hintergründe, als Paulus seinen Brief nach Rom schrieb. In meinem ersten Blogartikel darüber habe ich eingefleischte Gewohnheiten als ein ziemlich gleichbleibendes Thema untersucht. Diesmal hat mich nun eine Entwicklung innerhalb des Schreibens verblüfft: Zu den folgenden beiden Abschnitten könnte man nämlich gleich zwei völlig entgegengesetzte Beschwerden einreichen.

1. Zu ENG!?

Paulus beginnt mit Röm 1,18-32 seine Argumentation, nachdem der Apostel mit den davorliegenden Versen seinen Brief eröffnet hat. Die Menschen werden als ungerecht beschrieben und Gott darum als zornig (Vers 18). Der Ausgangspunkt der Ungerechtigkeit ist, dass Gott nicht geehrt und ihm nicht gedankt wird (V. 19-23). Dabei wäre dieser durchaus erkennbar, so dass die Menschen keine Entschuldigung haben (V. 32): „Und obwohl sie genau wissen, dass die, die so handeln, nach Gottes gerechtem Urteil den Tod verdienen, lassen sie sich nicht von ihrem Tun abbringen, im Gegenteil, sie finden es sogar noch gut, wenn andere genauso verkehrt handeln wie sie.“

Es ist also zu einer dreifachen PREISGABE der Menschen gekommen: Erstens hat Gott sie den Begierden ihres Herzens zur Unsittlichkeit – wörtlich: Unreinheit – preisgegeben (V. 24-25). Zweitens hat Gott sie entehrenden Leidenschaften zum widernatürlichen Geschlechtsverkehr preisgegeben (V. 26-27). Drittens hat Gott sie ihrem – zu keinem vernünftigen Urteil mehr fähigen – Verstand preisgegeben, da sie die Anerkennung Gottes ja „nach ihrem eigenen Urteil nicht nötig hatten“ (V. 28-31). Letzteres belegt Paulus mit einem sogenannten Lasterkatalog, in dem er unter anderem Folgendes aufzählt: Unrecht, Gemeinheit, Hinterhältigkeit, Erfinden von Bösem.

Der Mensch wird hier von Paulus mit voller Absicht in die Enge getrieben. Bei der (zweiten) Preisgabe an die entehrenden Leidenschaften werden so scheinbar Frauen und Männer herausgegriffen, die von der heterosexuellen Norm abweichen. Dies dürfte denen gefallen haben, die sich eine nicht der Fortpflanzung dienende Sexualität gar nicht hätten leisten können. Wer sich damals nicht um Absicherung durch Nachkommen sorgte, gehörte zu einer sozialen Luxus-Schicht. Paulus bereitet hier sein rhetorisches Ziel also durch einen populistischen Trick vor, der heutzutage natürlich tabu wäre. Zuerst teilt er gegen ein Erkennungszeichen der Eliten aus, so dass sich das breite Volk in Sicherheit wiegt. Aber mit diesem wird dann überraschend durch den erschöpfenden Lasterkatalog genauso abgerechnet! Nicht nur ‚die da oben‘ haben also ein Problem mit Begierden, sondern ALLE sind ohne (ge)rechtes Urteilsvermögen. Das ist der Punkt des Apostels!

2. Zu WEIT!?

Ein letzter Höhepunkt ist Röm 14,13-23 – kurz vor Ende des Hauptteils und damit auch des Briefs überhaupt. Paulus wendet in diesem Kapitel seine vorangegangenen Ausführungen auf eine konkrete Frage an – nämlich inwiefern die jüdische Unterscheidung zwischen rein/heilig und unrein/gewöhnlich z.B. beim Verzehr von Fleisch noch eine Rolle spielt. Darauf gibt der Apostel folgende Antwort (Vers 14): „Durch Jesus, den Herrn, bin ich zu der Überzeugung gekommen und habe die Gewissheit, dass es nichts gibt, was von Natur aus unrein wäre. Für den allerdings, der etwas als unrein ansieht, ist es dann auch unrein.“

Daraus folgt (V. 20-23; vgl. 13): Es ist einerseits alles rein – gerade für Menschen nicht-jüdischer Herkunft. Wenn diese aber ihre (durch das Werk Gottes gewonnenen Schwestern und) Brüder mit ihrem Essen (oder auch Trinken) zu Fall bringen, ist es VERWERFLICH! Es darf nicht zu (Selbst-)Verurteilungen „in Fragen der persönlichen Überzeugung“ und damit zu Hindernissen für den Glauben kommen! Als Kontrast zählt Paulus darum Tugenden auf, um die es im Reich Gottes geht (V. 15-19): Das Verhalten soll von der Liebe bestimmt sein. Das Gute darf nicht in Verruf kommen. Der Heilige Geist bewirkt Gerechtigkeit, Frieden und Freude. Der Christus-Dienst soll glaubwürdig sein. Es braucht alle Bemühungen darum, sich gegenseitig zu fördern.

Die Gemeinde wird hier von Paulus wirklich als ein Ort solcher Weite gesehen. Dabei geht es scheinbar nicht mehr um Reinheit, sondern ’nur‘ noch um GERECHTIGKEIT. Dies dürfte denen Schwierigkeiten bereitet haben, die eindeutige Regeln befolgen wollten: Vermeide das und das, weil es verwerflich ist – und zwar immer, unabhängig von anderen Menschen! Oder: Diene so und so, weil du dann glaubwürdig bist – und zwar immer, unabhängig von anderen Menschen! Stattdessen wird man von Paulus vor die anspruchsvolle Aufgabe gestellt, unterschiedliche Überzeugungen einzubeziehen und situationsbezogen abzuwägen. Fazit: Du fragst dich, was auf den Tisch kommen soll? Frage zuerst, wer am Tisch sitzen wird!

Und wenn ’sexuelle Minderheiten‘ mit am Tisch sitzen möchten?

Nur allzu gerne hätten wir von Paulus hier eine eindeutige Regel. Sind Essen und Sexualität für den Apostel zwei Themen, die unterschiedlich zu behandeln sind? Dann würde er den jüdischen Gemeindegliedern zumindest eine Aufweichung der Speisegebote (Levitikus 11) zumuten, während er bei der Sexualmoral (Levitikus 18) trotz nicht-jüdischer Gemeindeglieder ausnahmslos hart bliebe. Paulus kann allerdings davon sprechen, dass Leute ihren eigenen Begierden dienen, indem er wörtlich das Wort “Bauch” verwendet (s. Röm 16,18; vgl. Phil 3,19). Steht das bei ihm also nicht nur für Essen, sondern austauschbar auch für Sexualität? Dann hätte der Apostel umgekehrt ja auch Übergewicht als Erkennungszeichen der Eliten mit ihrem gedankenlosen Fleischkonsum anprangern können (Römer 1), während er um der friedlichen Tischgemeinschaft willen – von z.B. Homosexuellen und Homophoben – ebenfalls eine abwägende und pragmatische Lösung befürwortet hätte (Römer 14).

Letzteres ist natürlich eine Übertragung auf Problemstellungen unserer Zeit und daher für den damaligen Paulus unwahrscheinlich. Mit dessen Brief an die Römer können heute aber durchaus beide Positionen nachvollziehbar begründet werden, so dass keine der anderen von vornherein überlegen ist. Welcher Mensch kann nach eigener Überzeugung gerecht urteilen? Paulus traut es am Anfang seines Briefes keinem zu, aber am Ende jedem – entsprechend dem Wirken des Heiligen Geistes in der Gemeinde. Wenn DU also bisher vor allem (1) die Gefahr entehrender Leidenschaften gesehen hast, siehst du jetzt hoffentlich auch (2) die Möglichkeit geförderter Liebe – oder umgekehrt. In der Spannung von beidem hören ‚queere‘ Menschen von mir jedenfalls ein herzliches „Willkommen!“ – ohne dass ich mich deswegen einem ideologischen Druck beuge und da keine kritischen Gedanken mehr haben darf. 

Youtube-Favoriten zum Römerbrief

Auf dem Kanal von Worthaus findet man eine ausführliche Einführung in den Brief – aufgeteilt in Vortrag 1 (42 min) und Vortrag 2 (70 min). Und von Roland Werner gibt es eine ganze Römer-Playlist mit insgesamt 45 Videos einer Winterbibelschule (je 3-20 min):

Das war ein Blogartikel im Rahmen meines Projektes 8etappen.net und ich hoffe, er hat Lust darauf gemacht, auch selbständig auf biblische Entdeckungsreise zu gehen! Fange doch auch mit Etappe 1 an und folge mir in deinem eigenen Tempo! Ich selbst bin hiermit nun am Ende meines Vertiefungsleseplans In 3 Etappen durch die Bibel angekommen, werde aber noch mindestens einen allerletzten Bonus-Artikel danach veröffentlichen. Deine Bemerkungen zum Römerbrief würden mich übrigens auch sehr interessieren – Kommentieren ist also höchst erwünscht!!

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