Verwandtschaft ist manchmal eine sehr emotionsarme Angelegenheit. Selbst der ihr zugrundeliegende Sex kann sehr nüchtern beschrieben werden. Jedenfalls werden schon ab den ersten Seiten der Bibel immer wieder Namen von Männern genannt, deren Beitrag im Wesentlichen die Zeugung von mindestens einem männlichen (und auch wiederum nicht impotenten) Nachkommen war. Gleich nach der wohl bekanntesten Geschichte in Genesis (auch 1. Buch Mose genannt), nämlich derjenigen vom Sündenfall in Kapitel 3, startet Adam (mit Hilfe von Eva) das Projekt Fortpflanzung. Der Überblick geht schnell verloren – nicht so sehr jedoch, wenn es um das Volk Israel geht! Das beginnt nämlich zunächst mit der einfachen Abstammungslinie Abraham – Isaak – Jakob. (Letzterer begründet dann mit seinen zwölf Söhnen von vier verschiedenen Frauen die späteren Stämme.) Und endlich: Hier ist Familie nun doch auch eine Sache starker Affekte!! Folgende drei Überlieferungen bewegen mich beim Lesen immer wieder neu.
1. Freude: “Das hat der Herr gefügt!”
Kapitel 24 ist vielleicht das schönste von allen. Eine Romanze wird dort erzählt und zwar alles andere als sparsam. Natürlich sind viele der Details aus europäischer Sicht heute irritierend: Nicht Isaak darf sich eine Frau aussuchen und schon gar keine beliebige. Abrahams Besitzverwalter (!) erledigt das für ihn und kommt mit der Enkelin eines Onkels zurück. Ihr Name ist Rebekka und durch sogenannte Geschenke waren sie, ihre Mutter und ihr Bruder willig gestimmt worden. Letzterer ist also bestimmt auch materiell motiviert, wenn er in Vers 50 euphorisch von einer göttlichen Entscheidung spricht.
Man kann das Ganze aber auch positiver sehen: Immerhin darf die für ihre Anmut sowie Freundlichkeit bewunderte Rebekka mitentscheiden und ihr Ja ist möglicherweise doch ziemlich innerlich-frei (V. 56-58). Am wenigsten verdächtig wird jedenfalls der Besitzverwalter dargestellt, der sich offenbar wirklich in ungeheuchelter Dankbarkeit auf die Erde wirft (V. 52). Und so finde auch ich in all dem eine (unter altorientalischen Bedingungen) authentische Liebesgeschichte, laut der die ursprüngliche Absicht hinter der Schöpfung praktisch ungebrochen in Kraft ist: Von Gott kommt Gutes, seine Menschen geben ihm die Anerkennung dafür und gehen dadurch sowohl freudig als auch friedlich miteinander um.
2. Zorn: “Ihr habt mich ins Unglück gebracht!”
Das schrecklichste von allen ist für mich Kapitel 34. Dort ist von der guten Absicht des Schöpfers kaum noch etwas übrig geblieben: Jakob verhält sich die längste Zeit passiv, obwohl gerade seine Tochter Dina vergewaltigt wurde. Und so macht er seinen Mund erst auf, nachdem seine Söhne Simeon und Levi die Schandtat an ihrer Schwester in blutigem Wahnsinn gerächt haben. Jetzt, in Vers 30, verleiht er seiner Wut und seinem Selbstmitleid plötzlich Ausdruck und macht die beiden zu Sündenböcken. Das primäre Opfer hingegen erfährt in der Erzählung kein väterliches Mitgefühl und auch keine konstruktive Unterstützung durch die Brüder.
Besonders stört mich, dass einmal mehr etwas Zwischenmenschliches zunächst über eine Zahlung geregelt werden soll (V. 11-12). Selbst der Vater des Vergewaltigers hält den Vorfall für unbeholfene Liebe und daher für entschuldbar (V. 8). Bei allem Wohlwollen (und allen altorientalischen Voraussetzungen) hätte er doch auch Folgendes sagen können: “Mein Sohn, dir sind die Sicherungen durchgebrannt. Alkohol? Trotzdem, vergiss es! Trage die Konsequenzen – ja, jetzt wirst du für sie arbeiten, weil sie so kein anderer mehr heiraten und versorgen will. Aber wenn du wirklich echte Zuneigung verspürst und erwidert haben möchtest, dann frage doch mal deine Mutter, welche veränderte Herangehensweise dich da bei einer anderen Frau weiterbringen könnte!!” Leider ist von den Männern hier offenbar auch nur ein Minimum an Sensibilität zu viel verlangt.
3. Furcht: “Der Junge ist nicht mehr da!”
Zugleich schön und schrecklich ist die Erzählung des Träumers Josef, die in Kapitel 37 beginnt. Er ist ein erst später und von einer anderen Mutter geborener Sohn Jakobs. Sein Verhältnis zu den älteren Brüdern gelangt an einen solchen Tiefpunkt, dass er verkauft wird – an eine Karawane auf dem Weg nach Ägypten. In diesem entscheidenden Moment ist der erstgeborene Ruben nicht zur Stelle, so dass er in den Versen 29-30 nur noch mit Entsetzen das Verschwinden Josefs feststellen kann. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Verantwortung dafür mit zu übernehmen bzw. den Vater mit zu täuschen. Dieser glaubte nämlich der Lüge, dass ein Raubtier seinen Josef gefressen hat, und konnte nicht mehr getröstet werden. Davor hatte Ruben berechtigte Angst.
Natürlich ist das alles schlimm, aber mitten in der (sich dann auch in Ägypten noch einmal wiederholenden) Erniedrigung hat Josefs Erhöhung bereits begonnen! Der ursprüngliche Plan war ja ein Mord, der alle Träume von vornherein zunichte machen sollte (V. 20). Doch dann hat Bruder Juda die Idee mit dem Verkauf und leistet so unwissentlich geradezu einen Beitrag, dass das Geträumte wahr wird. Dank ihm kommt Josef an den Ort, wo er (allen weiteren Rückschlägen zum Trotz) Karriere machen wird – beim Hof des Pharaos (V. 36). Ahnungslos spielt auch die Karawane der Kaufleute bei diesem Plan B mit. Im Rückblick wird dann wahrnehmbar: Es ist Gottes Plan, der hier unaufhaltsam einem verwunderlichen Ziel entgegenläuft – der Rettung und Segnung aller Geschöpfe durch das Volk Israel!
Darf ich auch sagen, dass mich das eher kalt lässt?
Du musst nicht zu Tränen gerührt sein, das ist völlig ok. Vielleicht bist du Einzelkind (wie ich) oder findest aus irgendeinem anderen Grund, dass verwandtschaftliche Beziehungen und Ereignisse eher nebensächlich sind. Konzentrieren wir uns also auf die Hauptsache – nämlich darauf, dass die Geschichten zuallererst bei Gott etwas ausgelöst haben! Wie ich darauf komme? Nun, ich habe die Verbindungslinie zwischen dem stark (mit)fühlenden Vater im berühmten Gleichnis von den beiden Söhnen (Lk 15,11-32) einerseits und dem Schöpfer der Welt sowie Israels andererseits vor Augen. Wenn also dort von demselben Gott die Rede ist wie hier, dann lässt das folgenden Rückschluss zu: Wir haben es mit einem göttlichen Papa zu tun, dem kein einziges seiner Menschenkinder gleichgültig ist.
Auch was du erlebst, bewegt ihn: Möglicherweise hat dich ein ganz anderer Zusammenhang dazu gebracht, dich über eine herrliche Fügung zu freuen. Oder ein ganz anderes Unglück hat dich zornig gemacht. Oder auf ganz andere Art hat die Entdeckung, dass jemand oder etwas nicht mehr da ist, bei dir Befürchtungen hervorgerufen. Nun, wie steht Gott zu all dem? Manches ist eindeutig sein Plan (s. 1), manches eindeutig nicht (s. 2) und manches nicht eindeutig (s. 3). In jedem Fall steht er aber klar zu dir – nicht nur dann, wenn du gerade das Schöne von ihm anerkennst und gut damit umgehst. Erst recht, wenn du ein Täter / eine Täterin oder ein Opfer von etwas Schrecklichem geworden bist, weint er über die Unsensibilität in dir bzw. um dich herum. Und dann sagt er zu dir: “Ich habe bereits das Nötige unternommen, dass auch du am Ende mit mir feiern und fröhlich sein kannst! Vertraust du mir?”
Web-Favoriten zum Buch Genesis
Von den Podcast-Serien des Projekts bibletunes gibt es die entsprechende hier zum Herunterladen (je 5-10 min; komplett gesprochener Text + kurzer Impuls). Das Bibel Projekt wiederum bietet einmal mehr eine super aufbereitete Zusammenfassung von Teil 1 und Teil 2 (Videoclips à ca. 8 min). Und Worthaus hat eine ganze Veranstaltung allein den ersten Kapiteln der Bibel gewidmet – davon hier der Vortrag zum oben erwähnten Sündenfall (67 min):
Dies war ein Blogartikel im Rahmen meines eigenen Projektes 8etappen.net und ich hoffe, er hat Lust darauf gemacht, auch selbständig auf Bibel-Entdeckungsreise zu gehen! Fange doch auch mit Etappe 1 an und folge mir in deinem eigenen Tempo! Ich fahre mit Etappe 3 fort und werde so nächsten Monat einen kurzen Artikel zum Buch Exodus schreiben sowie hier veröffentlichen. Deine Bemerkungen zum Buch Genesis würden mich übrigens auch sehr interessieren – Kommentieren ist also höchst erwünscht!!