Wer schon seit Geburt komplett blind ist, hat eigentlich immer schwarzen Tee getrunken – auch wenn es in Wirklichkeit weisser oder grüner war. Aber natürlich sind Riechen und Schmecken in diesem Fall sowieso wichtiger, so dass die Unterscheidung damit genauso gut möglich ist. Schwieriger dürfte es sein, sich ohne Sehsinn die anschaulich erzählten Visionen in der Offenbarung des Johannes auszumalen. Ja – man würde denken, dass für so einen Menschen nicht mehr viel Nachvollziehbares übrig bleibt. Doch so ist es nicht! Gerade indem ich mich in eine derartige Situation hineinversetze, nehme ich umso mehr etwa die akustische Dimension wahr. Wie ausgiebig auch diese zum Zug kommt, kann ich so beim Lesen auf einmal staunend feststellen und entdecken. Folgende fünf Beispiele machen das deutlich.
1. Stimme von hinten
In Offb 1,9-20 schildert der auf die Insel Patmos verbannte Johannes, wie seine visionäre Reise begann – nämlich mit sieben goldenen Leuchtern und sieben Sternen, symbolisch für sieben Gemeinden in der heutigen Türkei und deren Engel. Noch wichtiger ist allerdings, dass ihm Jesus erscheint! Dessen Kopf wird detailliert beschrieben und teilweise auch das Aussehen unterhalb. Noch bevor Johannes jedoch etwas sieht, berichtet er von ungewöhnlichen Schallwellen (Vers 10): „Ich hörte hinter mir eine laute Stimme, die wie eine Posaune klang.“ Zudem wird auch noch der Vergleich mit dem Tosen des Meeres herangezogen (V. 15).
Jesus wird für Johannes zuallererst durch seine Posaunen-Meerestosen-Stimme offenbar und auch nur durch Sprache eindeutig identifizierbar (V. 18): „Ich war tot, doch nun lebe ich in alle Ewigkeit. Ich habe Macht über den Tod und die Totenwelt.“ Sein Reden macht für Johannes ebenfalls klar, dass die aufeinanderfolgenden Visionen dessen Gegenwart betreffen und nicht nur die Zukunft (V. 19). Und auch das vielleicht Wichtigste überhaupt wird gleich vorangestellt (V. 17): „Hab keine Angst!“ Denn wer den Herrn sieht, fühlt sich – wie etwa auch der Prophet Jesaja bei seiner Berufung – wohl erst einmal unwürdig.
2. Dröhnen auf der Erde
In Offb 8,2-6 befindet sich Johannes schon eine Weile auf Himmelsreise. Nachdem ihm Jesus sieben Briefe an die Gemeinden diktiert hat, geht es seither dort oben weiter. Zuletzt sind sieben Siegel einer Buchrolle geöffnet worden und gleich wird es mit dem Geblase von sieben Posaunen weitergehen. Doch dazwischen ist es zunächst ganz still. Johannes sieht einen goldenen Altar vor Gottes Thron, auf dem das Rauchopfer eines Engels dargebracht wird und zusammen mit Gebeten menschlicher Herkunft in die Höhe steigt (Verse 3-4). Dabei bleibt es allerdings nicht.
Der Engel wirft von dem zuerst ungefährlich auf dem Altar brennenden Feuer plötzlich auf die Erde (V. 5): „Da blitzte und donnerte und dröhnte es heftig, und die Erde bebte.“ Aus leise heraufsteigendem Opfer wird laut herabkommendes Gericht! Engel haben nicht nur eine überbringende Funktion, wenn Menschen zu Gott beten. Sie sind auch involviert, wenn der Herr kommen und über alle Menschen richten wird. Ein Zusammenhang wird also erkennbar zwischen dem Flehen z.B. eines verbannten Johannes einerseits und den letztinstanzlich verordneten Folgen für die Verbannenden andererseits.
3. Stimmen aus dem Himmel
In Offb 14,6-13 hört Johannes weiteren Schall. Nach den sieben Posaunen ist vor Gottes Thron zuletzt ein Lied erklungen und nun folgen drei Engel aufeinander, die mit lauter Stimme etwas verkünden. Der erste ruft zur Anbetung Gottes auf, der jetzt Gericht hält (Vers 7). Der zweite sagt (V. 8): „Gefallen! Gefallen ist das mächtige Babylon, das alle Völker gezwungen hatte, den todbringenden Wein seiner Unzucht zu trinken!“ Der dritte ruft zur Standhaftigkeit auf und warnt davor, das Tier zu verehren (V. 9-12). Die letzten beiden Botschaften sind besonders erklärungsbedürftig.
Die Johannesoffenbarung wird zeitlich überwiegend gegen Ende der Regierungszeit von Kaiser Domitian (81-96) eingeordnet. Unter diesem wurde die damalige Jesus-Bewegung teilweise verfolgt, weshalb Johannes und die von ihm angeschriebenen Gemeinden dringlichst auf den Fall Roms hofften. Für diese Stadt wird also Babylon als Deckname verwendet und mit dem Tier dürfte der römische Kaiser gemeint sein. Demgegenüber ist Jesus das Lamm, zu dem man sich bekennen soll – bis hin zur Bereitschaft, dafür zu sterben. Man stand also vor der Frage: Vor wem habe ich mehr Ehrfurcht – vor Jesus oder dem Kaiser, vor dem Lamm oder dem Tier? Mission Durchstehen war gerade sehr aktuell.
4. Rufen zweier Mengen
In Offb 19,1-10 wird auf Roms endgültigen Untergang zurückgeblickt. Die sieben Zornschalen sind ausgegossen, Gott hat Gericht gehalten über die Hure Babylon. Johannes hört nun zuerst einen Chor im Himmel und dann einen auf der Erde. Himmlisch gefeiert wird der Rauch der brennenden Stadt als gerechtes Urteil (Verse 2-3). Zu den Halleluja! Rufenden gehört mit expliziter Nennung der engste Kreis um Gottes Thron – 24 Älteste und 4 mächtige Gestalten (V. 4). Daraufhin wird zum irdischen Lobpreis aufgefordert (V. 5), der dann „wie das Tosen des Meeres und wie lautes Donnerrollen“ klingt (V. 6). Inhaltlich wird insbesondere darüber gejubelt, dass der Hochzeitstag des Lammes gekommen sei und sich dessen Braut bereit gemacht habe (V. 7).
Grund zu Lob und Anbetung gibt es in und jenseits der Zeit sowie am Anfang – und am Ende, wie die Johannesoffenbarung betont. Im Letzten gibt es ein heiliges Fest der Vereinigung – wie bei einer Heirat. Aber auch schon im Vorletzten preisen den Herrn diejenigen, die zu Opfern geworden sind. Nicht ihnen gilt ja der Zorn Gottes, sondern denen mit Blut an den Händen. Es kommt zur Rache des göttlichen Richters an denen, welche verfolgt und zugrunde gerichtet haben. Je mehr man durch Erhöhung über andere Menschen bedient ist, desto mehr hat man ein schmerzendes (Zurecht-)Richten zu fürchten. Je mehr man hingegen durch Erniedrigung unter andere Menschen gedient hat, desto mehr darf man sich auf ein linderndes (Auf-)Richten freuen.
5. Stimme vom Thron her
In Offb 21,2-5 sieht Johannes einen Neubeginn. Das Alte ist mit dem Tier, dem Teufel und dem Tod zu Ende gegangen. Aus dem Himmel kommt nun das neue Jerusalem – und dann ruft es vom Thron her laut (Verse 3-4): „Dies ist die Wohnstätte Gottes bei den Menschen! […] Er wird alle ihre Tränen abwischen.“ Es ist nicht eindeutig, wessen Stimme das ist. Handelt es sich hier um irgendein Himmelswesen oder spricht Gott hier selbst von sich in der dritten Person? Jesus könnte es auch sein. Wie auch immer – er kriegt als Bräutigam auf jeden Fall seine Braut, die Heilige Stadt.
Bereits das alte Jerusalem hätte eigentlich DER Ort des Segens, der Gerechtigkeit und des Dankes sein sollen. Zu oft ist daraus leider ein Ort der Qual, der Klage und der Traurigkeit geworden! Das letzte Wort hat aber derjenige, der alles neu macht – festlich geschmückt für ihn. Für immer wird das Bisherige vorbei sein. Was für eine Zusage an Israel und an alle anderen Völker – insbesondere an die, welche Vertreibung aus ihrem Eigentum oder Zerstörung ihrer kulturellen Identität erlebt haben! Bei ihnen wird Gott höchstpersönlich wohnen.
Ist ein so ohrenbetäubendes Aufdrehen wirklich nötig?
Ich kann verstehen, wenn man meine Faszination für Lautstärke nicht teilt. Auch der angespannt schreiende Jesus am Kreuz ist für manche sicher eher abschreckend – überhaupt all das Heftige darum herum (s. Mt 27,45-53; vgl. Mk 15,33-38 u. Lk 23,44-46). Eher trifft da doch im Vergleich etwa ein entspannt meditierender Buddha den religiösen (oder zumindest dekorativen) Geschmack einer Mehrheit. Ein Glaube ohne Störgeräusche ist für mich aber gerade nicht erstrebenswert! Angesichts all der Verfolgten, Verbannten, Vertriebenen dieser Welt ist nur etwas noch skandalöser – nämlich das Stillschweigen darüber. Und ebenso fragwürdig wäre, wenn man sich über einen Gott der Gerechtigkeit nur innerlich-stumm freuen würde.
Meine Ermutigung an DICH: Mach Krach! Sei lärmig! Auch du kannst deine Stimme für das Lamm Jesus erheben und für alle anderen Opfer des (heute freilich nicht mehr römisch-kaiserlichen, sondern sonstwie supermächtigen) Tieres. Womit möchtest du gerade gehört werden? Und worauf solltest du gerade selbst hören? Vielleicht ist es eine Botschaft mit Bezug (1) zur Angst vor dem Tod, (2) zum richtenden Feuer, (3) zur Ehrfurcht gegenüber (einem Nicht-)Gott, (4) zum hochzeitlichen Lobpreis, (5) zum Neubeginn mit den Menschen. Auf jeden Fall bete ich, dass der Heilige Geist dir Kraft zum Festhalten und Zuversicht schenkt – unabhängig davon, wie blind vortastend du dich sonst möglicherweise erlebst.
Links zum Buch Offenbarung
Auf bibelwissenschaft.de findet man im entsprechenden Bibelkunde-Artikel einen hilfreichen Überblick. Das Bibel Projekt bietet Vergleichbares in Form besonders ansprechend aufbereiteter Youtube-Clips zu Teil 1 und Teil 2 (jeweils gut 12 min). Und von Worthaus gibt es folgenden Videovortrag für diejenigen, die es ausführlich (und trotzdem nicht langweilig) mögen (102 min):
Dies war ein Blogartikel im Rahmen meines eigenen Projektes 8etappen.net und ich hoffe, er hat Lust darauf gemacht, auch selbständig auf Bibel-Entdeckungsreise zu gehen! Fange doch auch mit Etappe 1 an und folge mir in deinem eigenen Tempo! Ich fahre inzwischen mit Etappe 8 fort und werde so demnächst einen kurzen Artikel zum Buch Habakuk schreiben sowie hier veröffentlichen. Deine Bemerkungen zur Offenbarung würden mich übrigens auch sehr interessieren – Kommentieren ist also höchst erwünscht!!